Freitag, 15. Mai 2015

Lied

a  In meines Herzens Grunde,
b  Du heller Edelstein,
a  Funkelt all Zeit und Stunde
b  Nur deines Namens Schein.
c  Erfreuest mich im Bilde
d  Mit Spiel und leichtem Scherz,
c  Rührend so süss als milde
d  Mir an das wilde Herz.
    
e  Über Berge seh  ich ziehen
f  Dein jugendlich Gestalt,
e  Doch, wie die Wolken fliehen,
f  Das Bild vorüberwallt;
g  Es führt mich fort durch Wiesen
h  Weit ab in Tales Grund,
g  Doch wenn ich‘s will geniessen,
h  Zerfliesset es zur Stund.
   
i Ich will dich nicht umfassen,
Nur fliehe nicht von mir.
Das Bild kann ich nicht lassen,
Noch lässt es auch von mir.
Bei dir nur ist gut wohnen,
Drum ziehe mich zu dir.
Endlich muss sich doch lohnen
Schmerz, Sehnsucht und Begier.

Bringt jeder Tagesschimmer
Doch neuer Hoffnung Schein,
Und schreibt uns beid' noch immer
Ins Buch des Lebens ein.
Drum lass mich vor dir grünen,
Und leben froh und frei.
Gerne will ich dir dienen,
Dass treu dein Herze sei.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1802

Schelling gilt als der wichtigste Philosoph des Deutschen Idealismus. Die Kunst war für Schelling die höchste Ausdrucksform des Geistes, die sogar der Philosophie überlegen ist. Er veröffentlichte auch einige wenige lyrische Texte, die der Romantik zuzuordnen sind. Die Gedichte stehen in engem Zusammenhang mit seiner Naturphilosophie, die aussagt, dass die Natur vom Geist geprägt ist. Das Ziel ist die harmonische Einheit beider.

Das Gedicht Lied besteht aus vier Strophen mit je acht Versen. Es beinhaltet 3-hebige Jamben, die beruhigend wirken und abwechselnd männliche und weibliche Kadenzen. Die rhythmischen Kreuzreime führen einem durch dieses harmonische lyrische Stück.

Der unerreichbare Edelstein 

In der ersten Strophe findet sich das Symbol des Edelsteins (Vers 2), der in der Seele des lyrischen Ichs leuchtet und ihm positive Emotionen vermittelt. Ein Edelstein stellt Kostbarkeit dar. Nachdem das lyrische Ich den Edelstein erblickt hat, folgt es seinem Schein durch die Natur, doch der undefinierbare Edelstein bleibt für das lyrische Ich ungreifbar (Strophe 2). Das lyrische Ich will das kostbare Juwel aber gar nicht in seinen Besitz bringen, es fühlt nur die Sehnsucht nach ihm (Strophe 3). Doch das lyrische Ich spürt Hoffnung, es sichert dem Edelstein zu, dass es ihm immer dienen wird (Strophe  4). Die Unerreichbarkeit ist Tatsache, dennoch entschliesst sich das lyrische Ich sein Leben lang treu zu bleiben.

Das Gedicht könnte als typischer Reim einer unerfüllten Liebe dargestellt werden, es steht aber wahrscheinlich im Zusammenhang mit Schellings Philosophie der Natur (Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der harmonischen Zusammenführung von Natur und Geist).

(Bild folgt)

Das Gedicht stammt aus dem Buch...
Lyrik der Romantik: Interpretationen zu 17 wichtigen Werken der Epoche, 1. Auflage 2012, Hollfeld

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